Müssen wir mit "therapy speak" aufhören?

Warum nicht alles "triggert" oder "problematisch" ist + Shoppingkolumne: Tenniscore 🎾 + Kummerkasten: Hilfe, was ist mit meiner Altersvorsorge?

Logo

Herzlich willkommen bei Sunday Delight - schön, dass Du diesen Newsletter liest! Ich bin Julia Hackober, freie Journalistin. In meinen Briefen findest Du Themen aus Gesellschaft, Popkultur, Reisen und Stil.

 Hier findest du alle bisher erschienenen Ausgaben dieses Newsletters.

Ich freue mich sehr, wenn Du Dich für die Mailingliste anmeldest, dann verpasst Du keine Ausgabe:

Berlin, den 6. August 2023

Liebe Leser:innen!

Vielleicht habt ihr die Aufregung um Jonah Hills seltsame Textnachrichten an seine Ex-Freundin mitbekommen. Für alle, die nicht so auf bei „Vanity Fair“ rumklicken wie ich, hier die Zusammenfassung: Der amerikanische Schauspieler, der über seine Erfahrungen mit Psychotherapie sogar einen eigenen Film gedreht hat („Stutz“), versendete ein bisschen zu genaue Anweisungen, welche „Grenzen“ die Ex-Freundin in der Beziehung einzuhalten habe – unter anderem sollte die professionelle Surferin keine Bikinifotos mehr posten und keine Freundschaften zu männlichen Surfkollegen unterhalten. „These are my boundaries for a romantic partnership“, schrieb Hill an Brady – und bediente sich damit einer Wortwahl, die man aus dem Selfcare-Therapie-Kosmos kennt: Sei achtsam und kommuniziere deine persönlichen Grenzen. Nach dem Motto: Wenn du dich nicht so verhältst, wie ich mir das vorstelle, riskierst du, dass es mir psychisch schlecht geht. Brad postete die Nachrichten ein gutes Jahr nach der Trennung als Warnung für andere Frauen, Hill empfand das wiederum als Vertrauensbruch.

Eine messy Angelegenheit, die irgendwie typisch Millennial ist: Ein Liebesdrama endet in der Frage, wer wessen „mentale Gesundheit“ jetzt schlimmer belastet hat. Niemand will per Strichliste Regeln für die Beziehung übermittelt bekommen – man möchte ja aber auch nicht so gern private Nachrichten auf Gossip-Webistes wiederfinden. Also: ganz, ganz unangenehm alles.

Gut finde ich aber, wie diese Celebrity-Kiste die Debatte um „therapy speak“ neu angefacht hat – also um die inflationäre Verwendung von Begrifflichkeiten aus der Psychotherapie.

Oder zumindest aus dem Kosmos von psychologischen Verhaltenscontent, wenn man so will; auf Insta, Tiktok und Co. ist schließlich dauernd die Rede von Triggern und Traumata. Begriffe, die eigentlich echt schwerwiegende psychische Erscheinungen, zum Beispiel posttraumatische Belastungsstörungen beschreiben sollen, werden so zu lapidaren Alltagsbemerkungen: „Boah, der Typ in der Schlange an der Supermarktkasse war so langsam, das hat mich echt getriggert!“ oder „Ich hab‘ seit den Nullerjahren ein Hüfthosentrauma!“

Erst kürzlich habe ich mich mal wieder selbst dabei erwischt – beim „therapy speak“. Mit einer Freundin analysierte ich Liebesprobleme, wir besprachen, ob der Typ, der sich nach ein paar Dates plötzlich nicht mehr meldete, wohl Bindungsängste hätte oder anderweitige Ängste/psychische Probleme. Die klassische Unterhaltung also, die Frauen um die 30 gern führen, die schon mal was von Stefanie Stahl gelesen haben: Jegliches nervige Verhalten des Umfelds wird lieber auf tiefergehende psychologische Problemstellungen zurückgeführt als die Tatsache, dass Menschen sich oft einfach echt doof verhalten.

Natürlich war uns beiden klar, dass wir gar nicht wissen konnten – ich als unbeteiligte Dritte erst recht nicht –, ob und was mit dem Typen „nicht ganz stimmte“ (mit uns allen stimmt ja irgendwann irgendwas mal nicht so ganz, dies also bitte nicht als Shaming von psychischen Erkrankungen verstehen!)

Und uns war auch klar, dass diese Form von „therapy speak“, bei der man mit Begriffen aus der Psychotherapie großzügig um sich wirft, mindestens genauso problematisch ist wie eine Fast-Beziehung, die mehr oder weniger im Ghosting endet. Weil es a) übergriffig ist, derartige unqualifizierte „Ferndiagnosen“ zu stellen und weil es b) dazu beiträgt, dass psychische Erkrankungen weiter stigmatisiert werden. Wenn jeder Freundin, die ein bisschen zu gern über sich selbst redet, eine „narzisstische Störung“ unterstellt wird, dann führt das jedenfalls bestimmt nicht dazu, dass Depressionen & Co. gesellschaftlich als Erkrankungen ernster genommen werden.

Ich frage mich aber, warum wir überhaupt so reden – so, als wären wir Freizeitpsychologen, die nur einen kurzen Blick auf jemanden werfen müssen, um ein Urteil über das psychologische Profil der Person zu fällen. 

Vielleicht hat es wirklich was mit Stefanie Stahl zu tun; nicht mit ihr persönlich natürlich, aber mit der Allgegenwart von Psycho-Content, den wir uns allenthalben reinziehen. Von „Beziehungsexperten“, die Tipps in „seriösen“ Zeitungen geben, bis hin zu „Red Flag“-Tiktok-Videos, ist das Internet ja voll von Inhalten, die suggerieren, dass es meeeegawichtig sei, sich mit diesen oder jenen psychologischen Themen auseinanderzusetzen.

Ist es ja auch! Unterschreibe ich in vielerlei Hinsicht sofort.

ABER: Vielleicht müsste man öfter mal darauf hinweisen, dass man noch lange kein Psychologe ist, weil man entweder selbst schon mal eine Therapie gemacht oder, noch schlimmer, halt gern Achtsamkeits-Content auf Instagram konsumiert. Den Satz “ich bin ja selbst in Therapie, daher kenne ich mich da ein wenig aus…” habe ich persönlich schon viel zu oft in Unterhaltungen gehört. Nein, du kennst dich eben nicht aus, du kannst nur deine ganz persönliche Meinung zu dem Thema teilen, aber tu nicht so, als ob das irgendwie psychologisch fundiert sei!

Ich glaube, es hat zwei Gründe, dass sich “therapy speak” so verbreitet hat. Erstens sind Achtsamkeit und “Awareness” fast sowas wie ein Statussymbol geworden – Zeugnis davon, dass man sich seeeeelbstverständlich ausführlich mit der Fragilität des Menschen auseinandersetzt (der “New Yorker” nennt dieses Phänomen „class performance“). Der zweite Grund hängt mit dem ersten zusammen: Das Freizeit-Diagnostizieren und -Therapieren täuscht auch ein bisschen darüber weg, dass Menschen Fehler machen und sich einfach echt oft bescheuert benehmen. Ganz praktisch, wenn man sich selbst blöd verhalten hat, weil man das damit erklären dann, dass man ja “schlicht emotional überlastet” war. Und richtig beknackt, wenn man auf der Empfängerseite von Sätzen steht wie “ich glaube, du hast viel emotionale Arbeit vor dir.”

Bei meiner Recherche zu dem Thema habe ich einen, wie ich finde, ganz guten Tipp bei “The Cut” gefunden, wie man Nonsense-Therapy-Speak am besten begegnet: indem man ganz hart sagt: “Ich weiß nicht, wovon du redest, das hört sich sehr allgemein an, erklär bitte mal, was du überhaupt meinst.”

So. Was denkt Ihr über das Thema “therapy speak”– neigt Ihr auch dazu oder fehlt Euch dafür die “emotionale Kapazität”? ;)

Schreibt mir immer gern als Antwort auf diese Mail oder an [email protected]

Lese-Empfehlungen zum Thema:

Warum Jonah Hills “boundaries” nichts mit Therapie zu tun haben, hat der Guardian“ aufgearbeitet: “Even outside romantic relationships, terms like “boundaries” and “holding space” have led plenty of people to approach their interpersonal relationships like business transactions. We might cut people out of our lives prematurely after a single disagreement, or consider regular support as too much ‘emotional labour’.”

 

Binge-Alarm: Was Ihr diese Woche lesen, hören, sehen könntet

🎧 “Scamanda” auf Spotify: Eine junge Mutter in Kalifornien hat Krebs, bloggt darüber und sammelt Spenden für ihre teuren Behandlungen. Aber irgendwas stimmt nicht an der Sache… Der perfekte Podcast-Binge für Fans von unglaublichen Scams. Wenn ihr “Inventing Anna” mochtet, werdet ihr “Scamanda” lieben!

📚 “Ghost Lover” von Lisa Taddeo: Sammlung von Kurzgeschichten,in der es um die "dunklen Seiten im Leben des Frauseins” geht. Die Titelgeschichte um eine Dating-App-Gründerin war mir persönlich zu konstruiert, besser fand ich “42”: Darin wird ein sehr genauer und schmerzhafter Blick aufs Älterwerden einer Frau geworfen. Ein Buch, das diesen Sommer zum popfeministischen Diskurs gehört, kann man mal lesen (und dann mitreden 🙃).

📺 “Emily” auf Amazon Prime: Filmporträt über das Leben von Emily Brontë. Der Film von Frances O’Connor wurde dafür kritisiert, zu poppig zu sein – ich finde, nur so kann man doch die Faszination für die Brontë-Sistersim Jahr 2023 überhaupt noch erklären, indem man eben die zeitlosen Themen (fantasievolle Frau in fantasieloser Männerwelt…) zeitgemäß (Tattoo, Sex und Opium-Experimente) interpretiert. Unterhaltsam und an den richtigen Stellen etwas morbide-verrückt, nur das Ende ist langatmig.

📺 “Ludwig & Lippmann: Road to Paris 2024” in der ZDFMediathek: Laura Ludwig wurde 2016 Olympiasiegerin im Beachvolleyball, dann bekam sie zwei Kinder, jetzt will sie bei den Spielen in Paris noch mal angreifen –mit einer neuen Partnerin, der ehemaligen Hallenvolleyballerin Louisa Lippmann… Sympathische Doku über zwei Frauen mit krassem Durchhaltevermögen. Schade nur, dass das ZDF mal wieder überhaupt nicht erklärt, wie man sich in einem Sport, der nicht Fußball ist, in Deutschland überhaupt finanziert – das hätte mich grad bei zwei Frauen Ende 20 und Ende 30 wirklich mal interessiert!

*Bei meinen Binge-und Shopping-Empfehlungen verwende ich Affiliate-Links – d.h., solltest du das Buch über diesen Link kaufen, bekomme ich eine Mini-Provision.

Konsumopfer, die Shoppingkolumne: Tenniscore und die Rückkehr der Faltenröcke

Als Hardcore-Tennisfan bin ich natürlich eigentlich der Meinung, dass man beim aktuellen Tenniscore-Trend nur mitmachen darf, wenn man schon mal verschwitzt auf dem Platz gestanden und vor Wut, dass die Rückhand mal wieder nicht kommt, den Schläger geschmissen hat (oder zumindest fünf Stunden lang das Wimbledon-Finale zwischen Djokovic und Alcaraz geschaut hat, epic!)

Aber gut, ich will mal nicht so sein – Tennis ist nun mal die Sportart mit den besten Outfits, und das gilt für Grand-Slam-Teilnehmer wie Freizeitspieler. Und so ein Polohemd-Röckchen-Look ganz in Weiß hat natürlich immer was von einem unendlichen Sommer in den Hamptons (auch, wenn man nur im Volkspark Friedrichshain den Schläger schwingt). Persönlich finde ich, man sollte bei diesem Look den sportlichen über den Preppy-Aspekt stellen, damit die Attitüde lässig bleibt. Ein paar Outfit-Vorschläge mit Faltenrock-Vibe findet Ihr unten!

PS: Die passende Lektüre zum Trend: “Carrie Soto is back” - witziger Roman über eine 37-jährige Tennisspielerin, die es noch mal wissen will im Profisport (habe ich hier schon im vorigen Newsletter empfohlen).

Fotocredit oben: Hotel du Cap-Eden-Roc x Sporty&Rich

Sweatshirt von Sporty & Rich, um 155 Euro. Ich hab die Marke in meiner Athleisure-Hochphase während Corona entdeckt; hier ein interessanter Artikel über die Gründerin Emily Oberg und darüber, wie sie aus einem Insta-Moodboard ein 50-Millionen-Dollar-Imperium erschaffen hat.

Tennisrock mit integiertem Short von Lululemon. Um 78 Euro. Als Athleisure-Spezialistin empfehle ich, unbedingt auf einen gescheit sitzenden Short unterm Rock zu achten! Darf nicht zu kurz sein, sonst rutscht alles. Es geht hier immer noch um Sport!

Klassisches dunkelblaues Polohemd von Lacoste. Aktuell im Sale für 90 statt 120 Euro (reicht auch!) Rippoptik und Slimfit.

Cap von Ganni x Prince. Um 95 Euro. Wait, was? 95 Euro für ein Käppi? Ganz recht - ich sag doch, Tenniscore ist der Trend der Saison, und das hypertrendige dänische Label Ganni macht natürlich auch mit – in Zusammenarbeit mit der Sportswear-Brand Prince.

“Ich hab da ein Problem”… die Kummerkasten-Kolumne mit Euren Fragen und meinen Antworten

Liebe Julia,

denkst du jetzt schon manchmal an die Rente? Rechnest du dir aus, wie lange du arbeiten musst bzw. wie viel Geld du brauchen wirst? Mich würde dein Blick aufs Thema interessieren, da du ja jetzt auch selbständig bist.

- S. über Instagram

Liebe S.,

ich fühle mich wirklich geehrt, dass mich in diesem Format auch solche Themen erreichen! Eigentlich hatte ich eher mit Freundschaftsdilemmata gerechnet :)

Deshalb dachte ich bei deiner Frage auch zunächst, dass ich dazu nichts Sinnvolles beitragen kann – schließlich bin ich keine Wirtschaftsjournalistin. Beim zweiten Lesen habe ich Deine Frage aber so verstanden, dass Du von mir keinen Rentenmasterplan vorgelegt bekommen möchtest, sondern dass Dich interessiert, ob ich mir über das Thema Altersvorsorge Gedanken mache und wie ich damit umgehe.

Also, die Sache ist – kompliziert. Ich habe natürlich, wie das auf sämtlichen Female-Finance-Empowerment-Plattformen gepredigt wird, ganz viele Info-Newsletter usw. zum Thema Finanzplanung/Altersvorsorge für Frauen abonniert. Gucke ich da regelmäßig rein? Nein. Steht da viel mehr drin, als dass man ETF-Sparpläne anlegen soll, keine Angst vor Aktien haben darf und nicht auf die staatliche Rente vertrauen darf? Irgendwie oft auch nicht. Ich nehme aus diesen Content-Angeboten meist hauptsächlich mit, dass ich mich dringend selbst um mein Geld kümmern muss – versuche aber, mich der Panikmache einiger dieser Plattformen zu entziehen (ist ja wiederum deren Geschäftsmodell :))

Du siehst: Ich beschäftige mich durchaus mit diesen Themen. Altersarmut unter Frauen ist ein Thema, das mir große Sorge bereitet, nicht nur für mich persönlich, sondern auch gesellschaftlich. Es ist also wichtig, dass man vorsorgt, mit welchen Finanztools auch immer man das macht. Das hängt natürlich auch von den Mitteln ab, die für sowas zur Verfügung stehen; wichtiger, als mit Anfang 30 die Altersvorsorge komplett geklärt zu haben, scheint mir daher aktuell, vernünftige Gehälter oder Honorare im Job auszuhandeln.

Gleichzeitig befürchte ich, dass es eine hundertprozentige Sicherheit und Absicherung im Leben niemals gibt. Gerade mit Blick auf die Selbständigkeit: Natürlich ist die Unsicherheit, wann wie viel Geld reinkommt, für mich als Freelancerin größer als in der Festanstellung. Aber auch im Konzern weiß man ja nie, wie sich die Karriere weiterentwickeln wird – ob die eigene Abteilung immer so wichtig bleibt, ob Stellen gestrichen werden müssen, ob man noch mal befördert wird und einen Gehaltssprung macht oder eben nicht. Wenn man jetzt nicht gerade verbeamtet ist, gibt es im Leben und in der Karriere so viele Variablen, dass es, zumindest meiner Erfahrung nach, wenig bringt, sich auf einen allzu starren Fahrplan zu verlassen.

Ich persönlich habe mich deshalb entschlossen, das ganze Thema Finanzen kontinuierlich auf dem Schirm zu haben, immer mal wieder bei einem Workshop o.Ä. mitzumachen, einfach, um mich weiterzubilden – aber mich nicht völlig kirre zu machen hinsichtlich der Altersvorsorge. Wir leben ja nicht, um irgendwann in Rente zu gehen, sondern im Hier und Jetzt, und eine gewisse Flexibilität sollte man sich, finde ich, in allen Lebensumständen bewahren.

Ich hoffe, das hilft erst mal weiter!

Liebe Grüße

Julia

Ihr habt ein Problem, das ich in dieser Kolumne erörtern soll? Dann schreibt mir immer gern an [email protected]!

Facebook icon
Instagram icon
Twitter icon
Logo

Copyright (C) Want to change how you receive these emails?You can update your preferences or unsubscribe

Join the conversation

or to participate.